- Wahrnehmungen sind Konstanzleistungen
- Wahrnehmungen sind KonstanzleistungenViele Signale der modernen Umwelt wie Verkehrsampeln, Bremslichter und Uhrzeiger sind einfach und darum eindeutig. Auch in der Forschung sind einfache Sinnesreize nützlich, denn nur in einfachen und darum übersichtlichen Experimenten können Ursache und Wirkung einander sicher zugeordnet werden.Seit vorgeschichtlichen Zeiten müssen die Menschen aber auch mit sehr komplizierten Sinnesreizen zurechtkommen. Um überleben zu können, mussten unsere Vorfahren die Wetterentwicklung, die Vertrauenswürdigkeit von Gesprächspartnern, die Bedrohung durch versteckte Feinde und die Eignung von Schlafplätzen erkennen sowie bekömmliche von giftiger Nahrung unterscheiden. Für die dafür notwendigen Wahrnehmungsaufgaben gab es keine einfachen Signale. Die Reize sind dabei nicht nur kompliziert, sie können sich auch ändern, ohne dass dadurch die Wahrnehmung behindert würde. So erkennt man Menschen in anderen Kleidern, mit veränderter Frisur und sogar durch das Telefon. In diesen Fällen sind die Wahrnehmungen eindeutig, die Sinnesreize dagegen variabel. Die Fähigkeit, trotz der Veränderlichkeit der Sinnesreize dasselbe unverändert zu erkennen, heißt Konstanzleistung. Wahrnehmungen von Gegenständen sind immer Konstanzleistungen.FormkonstanzleistungenSchaut man sich vier Bilder eines Stuhls aus vier verschiedenen Perspektiven an, sieht man schnell und mühelos, dass alle Bilder dieselbe Art Stuhl zeigen. Das ist ein Fall von Formkonstanzleistung: Die Abbildungen auf dem Papier und im Auge sind höchst variabel, die Form wird trotzdem eindeutig erkannt. Wer zwei Stühle vergleicht, um herauszufinden, ob sie sich nicht vielleicht doch unterscheiden, braucht umso mehr Zeit, je weiter der eine Stuhl gegenüber dem anderen gedreht ist. Für die Lösung des Formkonstanzproblems brauchen Auge und Gehirn Zeit, Millisekunden, wenn das Problem sehr einfach ist, Sekunden, wenn es schwierig ist. Es ist zurzeit nicht möglich, zu sagen, wie das Formkonstanzproblem im Gehirn gelöst wird. Die Aufgabe lässt sich aber einkreisen. Die Bilder des Stuhls kann man als verschiedene zweidimensionale geometrische Projektionen desselben Stuhls auffassen. Die Projektionen lassen sich nach den Regeln der Geometrie ineinander umrechnen beziehungsweise transformieren. Wenn sich die Abbildungen so transformieren lassen, dass sie deckungsgleich werden, dann sind die abgebildeten Stühle gleich. Beim Erkennungsvorgang findet in irgendeiner Form ein Vergleich zwischen dem wahrgenommenen und dem erinnerten Stuhl statt. Welche Transformationen müssen beim Wahrnehmungsvorgang bewältigt werden?Eine einfache, die Wahrnehmung kaum behindernde geometrische Transformation ist die Größenänderung. Je nach Beobachtungsabstand ist die Abbildung im Auge wie im Fotoapparat größer oder kleiner. Das Gehirn bewältigt die abstandsabhängigen Größentransformationen offensichtlich automatisch, ohne dass man etwas davon merkt. Auch die Rechts-links-Spiegelung ist kein ernsthaftes Hindernis Dinge wieder zu erkennen. Der Umriss aller Gegenstände sieht von vorn und hinten wie Bild und Spiegelbild aus. Der Daumen mag links sein. An der umgedrehten Hand sitzt er aber rechts. Das gehört zu den Normalfällen des Sehens. Darum überrascht es nicht, dass diese Transformation beim Formerkennen keine Probleme bereitet. Eine Oben-unten-Spiegelung ist dagegen viel schwerer zu lernen. Versuchspersonen müssen eine Umkehrbrille mehrere Tage lang tragen, bis sie ihre Umgebung trotz der Umkehr von oben und unten wieder aufrecht sehen. Ganz schwierig sind Rotationen eines Bildes erkennbar. Es macht einige Mühe, diesen Text zu lesen, wenn er auf dem Kopf steht oder auch nur um 90º gedreht ist.Zu erwähnen sind auch die Anamorphosen. Bei diesen Verzerrungen, die mit gekrümmten Spiegeln leicht zu erzeugen sind, werden benachbarte Bildpunkte so weit auseinander gezogen, dass man die Formen nur noch mit Mühe oder gar nicht mehr erkennt. Anamorphosen können die Fähigkeiten des Formensehens überfordern, wenn kein geeigneter Spiegel für die Rücktransformationen vorhanden ist.Beim Formensehen müssen im Gehirn geometrische Probleme gelöst werden. Wir merken meistens nichts von den geometrischen Transformationen, die unbewusst in uns ablaufen müssen, bevor wir einen Gegenstand erkennen können. Die einfachen Beobachtungen zeigen, dass das Gehirn mit bestimmten geometrischen Transformationen (Größenänderung, Rechts-links-Spiegelung) leichter fertig wird als mit anderen (Oben-unten-Spiegelung, Rotation, anamorphotische Verzerrungen). Das Problem ist erkannt. Wie es aber im Gehirn gelöst ist, muss noch erforscht werden.Bevor es Lampen gab, war die Sonnenstrahlung der Ursprung fast aller Lichtreize. Auch das Licht, das von beleuchteten Oberflächen reflektiert wird, stammt letztlich von der Sonne. Die Sonnenstrahlung ist keine konstante Größe. Das Himmelslicht ändert sich mit der Tageszeit und dem geographischen Ort auf unserem Planeten. Da sich die Empfindlichkeit der Augen ebenfalls ändert, bleibt die wahrgenommene Helligkeit konstant oder schwankt nur geringfügig. Die physiologischen Ursachen für die Empfindlichkeitsänderungen der Augen sind schon bei den Stichworten Adaptation und webersches Gesetz angesprochen worden. Die Kurzfassung dieses Abschnitts lautet: Die Beleuchtungsstärke schwankt und die Augen passen ihre Empfindlichkeit an.Viel schwerer zu verstehen ist das Problem der Körperschatten. Die lichtzugewandte Seite aller Gegenstände empfängt und reflektiert mehr Licht als die beschattete. Die Körperschatten kann man in den Falten von Kleidungsstücken und Vorhängen wie auch bei den schon beschriebenen Würfeln sehen. Die Wahrnehmung der Oberflächen ist widersprüchlich. Obwohl die Würfelseiten bei genauer Betrachtung verschieden hell erscheinen, sehen wir, dass sie auf allen Seiten mit derselben weißen oder schwarzen Farbe angestrichen sind. Ebenso erkennen wir, dass der Vorhang in den Falten nicht dunkler gefärbt, sondern nur beschattet ist. Der Leser glaubte vielleicht bis jetzt, dass Oberflächen nur gleich oder verschieden sein können. In der Wahrnehmung aber ist offensichtlich beides gleichzeitig möglich. Das ist gut so, weil die Sinnesorgane und das Gehirn damit gleichzeitig zwei Fragen beantworten, die nach der Beschaffenheit der Oberflächen und die nach den situationsabhängigen Beleuchtungseffekten. Die Konstanzleistung kann dabei folgendermaßen formuliert werden: Den Gegenständen werden in der Wahrnehmung Oberflächenhelligkeiten zuerkannt, die unabhängig von der zufälligen Einfallsrichtung des Lichtes und somit konstant sind. Das Gehirn bezieht bei der Erstellung von Helligkeitskonstanz die visuelle Umgebung in die Auswertung mit ein.Farbkonstanz: Das Himmelslicht und die Atmosphäre,. ..Die Erde ist von der Atmosphäre umgeben, in der ein Teil der Sonnenstrahlung absorbiert und gestreut wird. Durch das Streulicht ist der ganze Himmel hell und nicht nur die Sonne. Der wolkenlose Himmel ist blau, weil der kurzwellige Spektralanteil viel stärker gestreut wird als der langwellige. Das Himmelslicht ändert sich mit der Bewölkung, noch mehr aber mit dem Sonnenstand. Morgens und abends, wenn die Sonne dicht über dem Horizont steht, ist der Weg der Lichtstrahlen durch die Atmosphäre viel länger als mittags, wenn die Sonne höher am Himmel steht. Dementsprechend sind morgens und abends auch die Streuungsverluste größer. Weil die Streuung im kurzwelligen Bereich der Strahlung am stärksten ist, ändert sich auch die spektrale Zusammensetzung des Himmelslichtes mit der Tageszeit.Auf der Erde wechselt folglich nicht nur die Beleuchtungsstärke mit der Tageszeit, sondern auch das Beleuchtungsspektrum. Wenn es keine Farbkonstanzleistung gäbe, würde ein weißes Blatt Papier im Mittagslicht bläulich, morgens und abends dagegen orangerot aussehen. Die Farbkonstanzleistung ist aber so perfekt, dass uns das Papier immer weiß erscheint, obwohl sich das reflektierte Licht mit dem Beleuchtungsspektrum ändert. Nur bei besonders intensivem Morgen- und Abendrot können Hauswände und Schneeflächen rötlich erscheinen.... die Zapfen. ..Im Tageslicht sehen wir mit drei Arten von Lichtsinneszellen, den Zapfen. Die drei Zapfenarten heißen nach dem englischen short, middle und long (kurz, mittel, lang) S-, M- und L-Zapfen, da sie jeweils für den kurzwelligen, den mittleren oder den langwelligen Teil des sichtbaren Lichtspektrums besonders empfindlich sind. Wenn die S-Zapfen stärker gereizt werden als die anderen beiden, sieht man die Farbe Blau, entsprechend bei den M-Zapfen die Farbe Grün und den L-Zapfen die Farbe Rot. Wenn alle drei etwa gleich erregt sind, sieht man ein unbuntes Weiß oder Grau. Farbe ist somit in dem Verhältnis der Erregungen der drei Zapfenarten und ihrer nachgeschalteten Nervenzellen verschlüsselt. Das ist die Aussage der trichromatischen Theorie des Farbensehens.Ein Beispiel für die Farbkonstanzleistung zeigen die folgenden Collagen. In Mittags- und Abendbeleuchtung reflektieren alle Papiere mehr vom kurz- beziehungsweise langwelligen Licht. Gäbe es keine Farbkonstanz, sähe die Collage ungefähr wie im zweiten und dritten Bild aus. Tatsächlich sieht sie aber zu allen Tageszeiten unverändert wie im ersten Bild aus. Auge und Gehirn passen die Verarbeitungsweise der Beleuchtung an. Deshalb kommt es nicht zu der blau- beziehungsweise gelbstichigen Wahrnehmung, sondern zu konstanten Farbempfindungen. Voraussetzung für die Farbkonstanzleistung sind die drei Zapfenarten. Nur weil verschiedene Zapfenarten existieren, gibt es Sinnes- und Nervenkanäle für den kurz-, mittel- und langwelligen Bereich des Spektrums. Die Beiträge der farbcodierenden Sinnes- und Nervenzellen zum Farbensehen können geregelt und dem Bedarf angepasst werden. Darum ist es möglich, die Farbempfindungen konstant zu halten, auch wenn sich das Beleuchtungsspektrum ändert. Diese Regelung findet nicht nur an einer Stelle statt. Sowohl die Adaptation der Sinneszellen als auch die Prozesse der Erregungsverarbeitung im Gehirn sind beteiligt.Menschen sind Trichromaten, weil sie drei Zapfenarten besitzen. Haben sie nur eine Zapfenart, was selten ist, sind sie Monochromaten. Der Monochromat ist notwendigerweise total farbenblind, da Farbe in der relativen Erregungsstärke der drei Zapfenarten verschlüsselt wird. Folglich kann er nur zwischen mehr oder weniger Licht und somit zwischen Hell und Dunkel unterscheiden. Die Farbenblindheit beschränkt die Sehfähigkeit der Monochromaten empfindlich. Wirklich schlimm aber ist das Fehlen der Farbkonstanz. Der Leser denkt vielleicht, der total farbenblinde Monochromat brauche sie nicht. Das aber wäre ein Irrtum. Die Farbkonstanzleistung ist nicht wegen des Farbensehens notwendig, sondern wegen der Veränderlichkeit des Beleuchtungsspektrums. Das muss auch den total Farbenblinden irritieren. Das zweite und das dritte Bild der obigen Abbildung sähe er zwar nur grau in grau, aber die Farbpapiere wären für ihn je nach Beleuchtungsart verschieden hell, weil sich ihre relativen Helligkeiten mit dem Tageslauf und der Wetterlage ständig ändern. Der Monochromat könnte sich auf das, was er sieht, nicht verlassen. Zuverlässige Signale können die Augen nur dann vermitteln, wenn die Veränderlichkeit des Beleuchtungsspektrums im Auge und Gehirn kompensiert wird, sodass es zu konstanten Wahrnehmungen kommt, unabhängig von der Beleuchtung. Dazu sind verschiedene Arten von Lichtsinneszellen notwendig. Die drei Zapfenarten machen uns wahrnehmungskonstant und außerdem auch noch farbentüchtig. Die Konstanzleistung ist notwendig, das Farbensehen eine nützliche Zugabe.... und die StäbchenMenschen sind im Tageslicht Trichromaten, im dunkeladaptierten Zustand aber Monochromaten. Solange wir bunte Farben unterscheiden, sehen wir mit den Zapfen. Sehr schwaches Licht registriert die Netzhaut aber nicht durch die Zapfen, sondern mit einer anderen Sinneszellart, den Stäbchen. Da es nur eine Art von Stäbchen gibt, sind wir im dunkeladaptierten Zustand Stäbchenmonochromaten. An Collagen aus Buntpapier lässt sich das experimentell überprüfen. Dazu muss man eine Brille tragen, die so wenig Licht ins Auge hineinfallen lässt, dass dieses selbst im Mittagslicht auf Stäbchensehen umschaltet. Vergleicht man nun mit einer Serie von Graupapieren, wie hell die einzelnen Buntpapiere beim Stäbchensehen in den beiden Beleuchtungen aussehen, kann man die dargestellten grauen Collagen herstellen. Als Stäbchenmonochromat würde man die erste Collage im Mittagslicht als ein X und Abendlicht als ein U sehen. Ein Stäbchenmonochromat kann im Sonnenlicht offensichtlich seinen Augen nicht trauen. Glücklicherweise sind die Menschen im Mittags- und Abendlicht normalerweise Trichromaten, denen man nicht so einfach »ein X für ein U vormachen« kann.Die Augen bewähren sich, wie alle Sinnesorgane, weil sie zuverlässige Signale an das Gehirn melden. Diese Aufgabe wird durch die Veränderlichkeit des Himmelslichtes erschwert. Die Variabilität des natürlichen Beleuchtungsspektrums muss im Auge und Gehirn bei der Erregungsverarbeitung kompensiert werden. Verschiedene Arten von Lichtsinneszellen sind für diese Aufgabe unverzichtbar. Den Zapfen verdanken wir letztlich die Konstanz der visuellen Wahrnehmung auf unserem Planeten.Prof. Dr. Christoph von CampenhausenGrundlegende Informationen finden Sie unter:Wahrnehmungen des MenschenDusenbery, David B.: Sensory ecology. How organisms acquire and respond to information. New York 1992.Eckert, Roger: Tierphysiologie. Aus dem Englischen. Stuttgart u. a. 21993.Fechner, Gustav Theodor: Elemente der Psychophysik. 2 Bände. Leipzig 1860. Nachdruck Amsterdam 1964.Neuro- und Sinnesphysiologie, herausgegeben von Robert F. Schmidt. Berlin u. a. 31998.Neurowissenschaft. Vom Molekül zur Kognition, herausgegeben von Josef Dudel u. a. Berlin u. a. 1996.Neurowissenschaften, herausgegeben von Eric R. Kandel u. a. Aus dem Englischen. Heidelberg u. a. 1996.Shepherd, Gordon M.: Neurobiologie. Aus dem Englischen. Berlin u. a. 1993.
Universal-Lexikon. 2012.